Text über Hugo Bettauers “Erotische Revolution” in Theorie und Praxis anlässlich der Verleihung des Preises für Publizistik der Stadt Wien am 21. November 2018
In meiner Eigenschaft als Träger des Preises der Stadt Wien für Publizistik im Jahr 2018 hat mich Frau Dr. Danielczyk eingeladen, einen Vortrag zu halten, und als Thema den Wiener Schriftsteller und Journalisten Hugo Bettauer vorgeschlagen. Ich möchte kurz erklären, wer Bettauer war und wie ich, als Germanist, dazukam, mich seit gut 40 Jahren mit ihm zu beschäftigen.
Kurz gesagt: Der in Wien genauso beliebte wie umstrittene Bettauer ist 1872 geboren, war jüdischer Abstammung, ist aber mit 18 Jahren aus dem Judentum ausgetreten. Er hat gut zwei Dutzend, vorwiegend Wiener Romane veröffentlicht und starb am 26. März 1925, zehn Tage, nachdem in der Redaktion seiner Zeitschrift in der Lange Gasse im 8. Bezirk auf ihn ein Mordattentat verübt wurde. (Nebenbei bemerkt: in unmittelbarer Nähe der damaligen Redaktion wurde im Jahr 2009 ein Platz nach Bettauer benannt.) Der Täter: ein bald 21jähriger, arbeitsloser Zahntechniker, der sich bei den Nationalsozialisten sozialisiert hatte. Der Name Hugo Bettauer könnte Ihnen in den letzten Monaten begegnet sein. Die restaurierte Fassung der Verfilmung seines berühmten und erfolgreichen Romans Die Stadt ohne Juden aus dem Jahr 1924 (das Buch erschien 1922) gelangte hier im vorigen Frühjahr zur Weltpremiere.
1926 erschien übrigens eine amerikanische Ausgabe (siehe Prospekt). Besonders interessant dabei ist – vor allem im Jahr 1926 – die Frage des Werbeprospekts „Will this occur in Germany?“, also „Wird so etwas in Deutschland passieren?“ Nicht nur das ist bemerkenswert. Der Untertitel der Übersetzung lautet: „A Novel of Our Time“, also ‚ein Roman unserer Zeit‘ und nicht von ‚Übermorgen‘.
Mitte der 1970er Jahre war ich noch mit Robert Musil beschäftigt, zunächst bei den Ausgaben der Tagebücher (1977), dann der Gesammelten Werke (1978) und schließlich der Briefe (1981). 1955 hatte der Musil-Herausgeber Adolf Frisé den umfangreichen Band Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden herausgegeben. Es war dies übrigens eine Zeit, zu der Musil noch völlig unbekannt war und die Wiener Germanistik noch keine Notiz von ihm nahm. Das sollte noch 20 Jahre dauern. In einem Tagebucheintrag Musils stand: „Krausianer. [Fritz Ernst] Bettauer verehrt schmerzlich Kraus, der ihn einmal ‚ungerecht‘ angeprangert hat.“ Im Namensverzeichnis schrieb der Herausgeber: „Bettauer, Fritz Ernst (geb. Breslau, 1887)“ Irgendwie passte das für mich nicht zusammen. Warum sollte Musil im Kontext von Karl Kraus von einem deutschen Autor schreiben? Das eine führte zum anderen. Da zu dieser Zeit Prof. Wendelin Schmidt-Dengler dabei war, die „ausgeblendete“ Literatur der Zwischenkriegszeit für die österreichische Germanistik zu entdecken und das Thema Literatur und Gewalt so naheliegend war, haben wir ein Projekt für mich als arbeitslosen Germanisten eingereicht. So etwas in der Art von ‚Erotik und Hakenkreuz auf der Anklagebank/Der Fall Bettauer‘. Um es abzukürzen: Das Buch Der Fall Bettauer erschien 1978 im Wiener Löcker Verlag, übrigens das zweite Buch in seinem noch jungen Programm.
Die Beschäftigung zu dieser Zeit mit Bettauer oder anderen Autoren der Zwischenkriegszeit (also jenseits des konservativen Kanons der Nachkriegszeit, der auch die erfolgreiche deutschvölkische Literatur in Österreich ignorierte), war verpönt. Sie wurde als “Trivialliteratur“ abgetan, mit der sich aufrechte Germanisten nicht befassen. Man schaute (noch) auf die Leute hinunter, die sich mit vermeintlich „minderwertiger“ Literatur beschäftigten. Das sollte sich ändern, aber das ist eine andere Geschichte. Bei meinen Recherchen für das Bettauer-Buch stand ich mit dem Mörder Bettauers, Otto Rothstock, in regelmäßigem brieflichen Kontakt. Obwohl er ein Treffen in Wien vorschlug – er lebte in dritter Ehe in Hannover und wollte Familiengräber besuchen – habe ich immer eine Ausrede gefunden, um ihm nicht persönlich gegenüberstehen zu müssen. In der ORF-Fernsehsendung teleobjektiv wurde 1977 ein Beitrag unter dem Titel „Der Mann, der Hugo Bettauer erschoss“ ausgestrahlt. Rothstock hinterließ einen grauenhaften Eindruck. Aber, obwohl der Beitrag die krausen Ideen des Bettauer-Mörders entlarven wollte, konnten manche Zuschauer nicht umhin, dem selbsternannten „Porno-Jäger“ der 1970-er Jahre in Deutschland zuzustimmen. 1980 hat mich ein Herr Robert Azderball, Geschäftsführer des Hannibal-Verlags, kontaktiert. Er hatte, wie er mir begeistert erzählte, kürzlich eine Geschenkkassette der Werke Bettauers aus den 1920er Jahren (12 Bände!) gekauft und meinte, dass eine neue Kassette die Bettauer-Konjunktur richtig anheizen würde. Seine Bitte: ich möge aus dem Schaffen Bettauers sechs Romane auswählen, die in einem Schuber erscheinen würden, und ein Begleitheft beisteuern. Es kam zu einem Konflikt mit meinem „Germanistenherzen“ – siehe oben. Ich habe mir schwergetan, eine Auswahl zu treffen, denn, Hand aufs Herz, keines seiner Bücher ist nobelpreisverdächtig. Aber: sie bieten uns heute mit ihrer chronikalen Präsentation einen einmaligen Einblick in das Leben und Treiben in Wien der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Wie erfolgreich das Projekt mit der 6-bändigen Ausgabe war, weiß ich nicht. Wie auch immer: ich werde fast jährlich von Bettauer „verfolgt“. Vor Erscheinen von Der Fall Bettauer war ich in Kontakt mit Bettauers zweiter Frau und seiner Schwiegertochter. In den letzten Jahren habe ich regelmäßigen Kontakt mit Bettauers Enkelin. Rothstock starb am 26. Mai 1990 in Hannover.
Wenn wir das Wort “Erotik” oder das Wort “Pornographie” hören, dann spitzen sich meist unsere Ohren. Mit den beiden Begriffen verbinden wir beinahe reflexartig etwas in Wort oder Bild. Für den einen ist das vielleicht das berühmte Werk Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt aus dem Jahr 1906. Also ein „Porno-Klassiker“, der übrigens nicht von Felix Salten stammt. Für den anderen sind es eventuell auf Hochglanzpapier gedruckte Herrenmagazine oder ein bestimmter Kinofilm. Bei meinen heutigen Ausführungen möchte ich die Zeit gut neunzig Jahre zurückdrehen und aufzeigen, wie eine gewisse Vorstellung von Erotik und Pornographie in bestimmten politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kreisen letztlich zu einem Mordattentat führen konnte.
Am 14. Februar 1924 brachte Hugo Bettauer, der jahrelang in seinen Zeitungsfeuilletons für die Rechte bzw. die Selbstbestimmung der Frau, für eine Abschaffung des berüchtigten § 144, also des Abtreibungsverbots, und für viele anderen Anliegen wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot und des Drogenkonsums eingetreten war, eine neue Zeitschrift auf den Markt.
Sie hieß Er und Sie, hatte einen Umfang von zunächst 12 Seiten, war auf Zeitungspapier schwarz/weiß gedruckt und hatte einen für manche geradezu provokanten, weil unsittlichen Untertitel: Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik. Da haben wir schon das elektrifizierende Wort! Mit dem Erscheinen der fünften Nummer am 13. März (bitte das Datum merken) kam das Aus durch eine Polizeibeschlagnahme. Bettauer und sein Geschäftspartner Rudolf Olden wurden grob gesprochen wegen Pornographie und Kuppelei angeklagt. Bevor ich erläutere, was damals von manchen Gruppen als solche offenbar gehalten wurde, ein Wort zur Auswirkung von Er und Sie auf den Zeitschriftenmarkt. Geschäftstüchtige, die das große Geld verdienen wollten, traten auf den Plan. Kaum war Er und Sie – nota bene von Bettauer – verschwunden, kam Ich und Du. Wochenschrift für Kultur und – no na – Erotik heraus!
Wochen später war die nächste Nachahmung in den Zeitungskiosken: Adam und Eva. Deutsche Wochenschrift für Lebenskultur und – erraten! – Erotik. In dieser Erotikkonjunktur war das nicht alles: Es kamen noch die Zeitschriften Bananen. Wochenschrift für Witz, Satire und Erotik, Kokain. Eine moderne Revue, Wir Zwei, Wir Beide, sowie Das Rendezvous hinzu. Er und Sie gab auch Anlass zur Parodie im Stil der Stunde: Der fingierte Titel: Die schwache Stunde. Erotisches unabhängiges Zentralorgan für Geisteskultur.
Weniger witzig war eine Zeitschrift – sie erschien einmal zum Bettauer-Prozess und dann einmal zum Mordanschlag – die gegen den „Pornographen“ Bettauer gerichtet war: Der Zitterrochen. Gewidmet der Entlarvung und Brandmarkung schädlicher Zeitgenossen.
Doch zurück zum Stein des Anstoßes und den bösen Folgen. In der ersten Nummer seiner Zeitschrift Er und Sie ist Bettauer bildlich gesprochen so manchen Zeitgenossen – seien sie katholischer oder nationalsozialistischer Provenienz – auf die Zehen gestiegen, denn er hat nichts weniger als „Die erotische Revolution“ ausgerufen. Es ist eine Revolution, die, wie er meint, „mehr als jede politische das Leben der kommenden Generationen verändern muß“. Kurz formuliert will Bettauer mit dieser neuen Zeitschrift „die Beziehungen (…) zwischen Mann und Weib aus dem Sumpf einer verlogenen Pseudomoral zur sittlichen, freien Höhe emporheben“. Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt er in Leitartikeln zu Fragen wie der Änderung der Abtreibungsbestimmungen (er fordert die Entkriminalisierung und Indikationslösung), gleichgeschlechtliche Beziehungen, Schutz des unehelichen Kindes oder gar des heftig diskutierten Mieterschutzes Stellung. Er hält es für einen „Schandfleck“ des jungen Staates, „daß die Dirne, dieses schutzbedürftigste und beklagenswerteste Opfer des Mannes, das Wahlrecht nicht“ hat. Er findet es falsch, dass die Erotik bloß Sache der Ehe sei und meint, dass die Frau in der damaligen Gesellschaft nur scheinbar gleichberechtigt sei. Vielmehr, so Bettauer, sei sie bloß „Arbeitstier“ geworden und habe ihre sexuelle Freiheit dadurch nicht erobert. Also eine ziemlich explosive Mischung! Insgesamt betrachtet wollte die Wochenschrift ein Aufklärungsmedium sein und auf leicht verständliche Weise die Ergebnisse der Sexualwissenschaft einer breiten Schicht des Publikums bekannt geben. Das bedeutet nicht, dass Bettauer angesichts der einschlägigen kommunalen Einrichtungen in Wien auf diesem Gebiet ein Vorläufer war. Er hat die Themen lediglich popularisiert und das war immerhin sehr viel.
Es stellt sich die Frage, wo der Staatsanwalt „Pornographie“ und „Kuppelei“ in der Zeitschrift ortete. Es wurden zum Beispiel zwei alte Gemälde in schwarz/weiß beanstandet. Achtung Pornographie! So schauen die Illustrationen aus. Also kein Vergleich zur Auslandsseite der Kronen Zeitung heute! Zum Inhalt gehörte u.a. ein Fortsetzungsroman, hier Die lustigen Weiber von Wien.
Für die Staatsanwaltschaft waren die Kontaktanzeigen (eine Rubrik, die dann alle Nachahmer übernahmen), die redigiert wurden, um allfällige Zweideutigkeiten zu vermeiden, ein besonderer Dorn im Auge. Sie erschienen in der Rubrik „Menschen, die einander suchen“. Ein Witzbold machte daraus „Menschen, die einander versuchen“. Hier liest man z.B. „Sportsmädel, 21 Jahre, dunkelblond, elegante Erscheinung, Beamtin, sucht akademisch gebildeten, gut situierten Sportsmann nicht unter 35 Jahre unter „Lustigen Skipartner 1619“ an die Exped.“ Oder: „Junger Mann, gebildet, sucht Bekanntschaft einer Dame unter „Intelligent 1634“ an die Exped.“ Allein diese Beispiele zeigen eine Harmlosigkeit, die man in den Kontaktanzeigen der Kronen Zeitung in den letzten 40 Jahren nicht finden wird. Aber auch Anzeigen und Illustrationen, die man auch damals als harmlos bezeichnen könnte.
Am 12. März 1924 hielt der christlichsoziale Bundeskanzler Prälat Dr. Ignaz Seipel eine Rede bei einer Parteiversammlung im dritten Bezirk. (Nach den blutigen Ereignissen des 15. Juli 1927 wird der mehrfache Kanzler sich den Beinamen „Prälat ohne Milde“ erdienen.) Die Rede markiert den Auftakt zu einer beispielslosen Pogromstimmung gegen Bettauer. Er wird zur willkommenen Projektionsfläche für wütende Antisemiten und jene, denen er eine verlogene Sexualmoral vorwirft. Unter den Namen, die in der feindseligen Presse genannt werden, findet man: „Schlammwühler“, „ein größerer Verbrecher als ein Raubmörder“, „jüdisches Schwein“, „Schweinehund“, „Schandkerl“, „perverses Kloakentier“, „räudige Talmudseele“, „geiles Untier“, „Ungeziefer“ und „gewerbsmäßiger Pornograph“. Folgende Bezeichnungen finden seine Feinde für Er und Sie: „Lügen- und Sudelblätter“, „Fachzeitschrift für das Liebesgewerbe“, „Schandblatt“, „Schweinereien“, „Bettauersche Fäkalien“, „Sudelflut“, „literarische Kloaken“, „Schmierantenblatt“, „Sudelliteratur“, „Schandliteratur“. Die Liste ist nicht vollständig. In seiner Rede sagt Seipel u.a. Folgendes:
„Es ist keine Neuigkeit, keine Phrase, die nur ich mir angewöhnt hätte, sondern in allen Ländern sieht man es ein und schreibt man davon, dass eine Gesundung der Seelen notwendig ist, dass die Menschen innerlich wieder anders werden müssen, als sie im Wirbel der letzten Jahre geworden sind.
(…) Ich muss nun in dieser Stunde einen schweren Vorwurf erheben. Ich habe nicht viel Zeit herumzuspazieren, ich gehe nicht in die Tabaktrafiken, schon weil ich kein Raucher bin, aber ich bekomme aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten – und schon nicht mehr nur aus den katholischen Kreisen – Zeitungen und Zeitschriften zugeschickt und in den beiliegenden Schreiben wird mir gesagt: Um Gottes Willen, eine solche Flut von Pornographie hat es doch noch nicht in unserem Wien gegeben. (Laute Zustimmung.) (…)
Ich glaube, der Bürgermeister als Landeshauptmann kann dazu nicht schweigen. Wenn er diesem Treiben nicht Einhalt tun will, möge er sich offen zum Prinzip der Entsittlichung und Verseuchung des Volkes bekennen, möge er sich Seite an Seite mit den literarischen Schmutzfinken zeigen. (…)
Auf jeden Fall aber werden wir Christlichsoziale nicht rasten und nicht ruhen, bis die Einsicht allgemein wird: Eine Partei im Rathaus, die etwas Derartiges schützt und unterstützt, die hat auf dem Wiener Boden nichts zu suchen. (Demonstrative, anhaltende Zustimmung.)“
Das war auf dieser Ebene eine offene Kampfansage des schwarzregierten Bundes gegen das „Rote Wien“, und eine entsprechende Reaktion des Wiener Bürgermeisters Karl Seitz lässt nicht lang auf sich warten:
(…) Wenn auch der Bürgermeister einer Weltstadt in Fragen der Literatur und Presse andere Auffassungen haben muss als etwa ein Dominikanermönch, ein päpstlicher Prälat oder ein Kartäuser, so stehe ich nicht an, offen zu sagen, dass auch mir manche Erscheinungen der letzten Zeit nicht gefallen. (…)
(…) Gegenüber diesem Sachverhalt ist es klar, dass Professor Seipel durchaus nicht ausgezogen ist, um die öffentliche Sittlichkeit oder etwa gar die Jugend vor gewissen Ausschreitungen der Presse zu schützen, sondern, wie sich aus der ganzen Rede ergibt, um den Kulturkampf gegen eine große Partei und gegen die große Mehrheit der Wiener Bevölkerung zu eröffnen. (…) Ich sage mit aller Ruhe: Es gibt auch nicht einen Sozialdemokraten, der nicht den Mut hätte, diesen Kampf aufzunehmen; wenn der Bundeskanzler ihn erwünscht.
Als Professor Seipel vor mehreren Jahren aus Salzburg nach Wien kam, mag er sich vielleicht nicht gedacht haben, dass er sich nach wenigen Jahren berufen fühlen wird, die Wiener zu belehren, welche Partei auf dem Wiener Boden nichts zu suchen habe und welche Partei berufen sei, die Stadt zu verwalten. Wir werden einen Kampf nicht scheuen. Wenn der Bundeskanzler die Aufmerksamkeit von den volkswirtschaftlichen und politischen Fragen, die uns heute bewegen, abzulenken und den Kampf auf dieses Gebiet zu verlegen sucht, so werden wir auch da unseren Mann stellen und das zu verteidigen wissen, was wir zu verteidigen haben. Das ist die Freiheit der Presse, die Freiheit der Literatur und die Freiheit der Kunst. Mit derselben Energie werden wir selbstverständlich das Recht der Jugend auf Schutz vor sittlichen Gefahren verteidigen.“
Der Inhalt der Rede Seipels wird übrigens in Bettauers Fortsetzungsroman Das entfesselte Wien Eingang finden. Am 21. März 1924 verlagerte sich der Kampf um Bettauer und seine Wochenschrift Er und Sie in den Wiener Gemeinderat, wo es zu wüsten Szenen, Schlägereien und Handgemengen kam. Am 15. Mai startet Bettauer eine neue Zeitschrift, die vom Bekanntheitsgrad seines Namens profitieren soll: Bettauers Wochenschrift. Der unverfängliche Untertitel: Probleme des Lebens. Im Laufe der Zeit gewinnt er 40.000 Abonnenten. Sein erster Leitartikel prangert die „Lebensfremdheit“ in der Gesetzgebung rund um das Abtreibungsverbot an. Die Wochenschrift bleibt bis zur Einstellung im Jahre 1927 von der Sittenpolizei unangetastet.
Im September 1924 wurden Bettauer und Olden von einem Geschworenengericht von allen Punkten der Anklage (Pornographie und Kuppelei) in Zusammenhang mit Er und Sie freigesprochen. Erste Aufrufe zur Lynchjustiz an Bettauer werden laut, der Journalist erhält Drohbriefe. In manchen Kreisen ist der Freispruch Bettauers gleich ein Freibrief zur Unsittlichkeit und zur Verderbnis der Jugend. Hier eine „passende“ antisemitische Karikatur, die anlässlich des Freispruchs in der Zeitschrift Kikeriki! (5.10.1924, S. 1) erschien. Bettauer reitet ein Schwein mit dem Freispruch unter dem Arm. Zu seinen Füßen Bettauers Wochenschrift. Der Kommentar: „Zum jüdischen Neujahr läßt sich sogar ein koscherer Jud a Glücksschweindl gefallen!“
Im Rahmen der neuen Zeitschrift hält Bettauer eine regelmäßige Sprechstunde in der Redaktion ab —man spricht von einer „Seelenordination“. Anbei ein Foto von Tatort. Es kommen hilfesuchende Arbeitslose, Obdachlose, Drogensüchtige, Mittellose zu ihm, und er hilft, wo er kann. Am 10. März wartet auf ihn ein arbeitsloser Zahntechniker namens Otto Rothstock, der sich unter einem Vorwand vordrängt, sich in Bettauers Büro einsperrt und fünf Schüsse abfeuert. Schwer verwundet überlebt Bettauer noch zehn Tage. Später wird Rothstock, der Deutsch nur schlecht lesen und schreiben konnte, zu Protokoll geben, dass er durch seine Tat die deutsche Jugend vor dem sittenverderbenden Einfluss von Bettauers Zeitschrift Ich und Du schützen wollte. Dass Bettauer mit Ich und Du nichts zu tun hatte, interessierte die Polizei nicht. Die Reaktion auf den Anschlag in vielen Presseerzeugnissen lässt sich in einer Schlagzeile der Arbeiter-Zeitung kurz beschreiben: „Wie sie den Mord billigen!“
Anfang Oktober stand Rothstock wegen Mordes vor Gericht. Unter Anklage stand aber wegen der sonderbaren Prozessführung de facto der tote Journalist und nicht der Wirrkopf Rothstock. Es kommt zu einem eindeutigen Fehlurteil: Rothstock wird einstimmig des Mordes und des illegalen Waffenbesitzes für schuldig befunden. Die Zusatzfrage allerdings, ob er zum Zeitpunkt des Anschlages des Gebrauches der Vernunft völlig beraubt gewesen sei, wird mit sechs Ja- und sechs Nein-Stimmen beantwortet. Der Vorsitzende verkündet hierauf den Freispruch auf Grund des Geschworenenverdikts. Rothstock wird in eine Heilanstalt (Am Steinhof) überstellt und im Februar 1927 als freier Mann entlassen.
Doch nun zurück zum Thema „Erotik“ bzw. zu dem, was in den 1920er Jahren von manchen als solche wahrgenommen wurde und heute am besten zum Lachen ist. Man kann vorausschicken, dass sie in seinen vielen Wiener Romanen vom Tage etc. eine nicht unwesentliche Rolle spielte und auf Kritik stieß. Nehmen wir das Beispiel einer dramatisierten Novelle Bettauers unter dem Titel Die blaue Liebe, die im Oktober 1924 uraufgeführt wurde. In diesem Sittenbild in drei Akten, das die Zusammenhänge von Liebe, Geld und Moral illustrieren soll, geht es um eine ménage à trois, eine Dreierbeziehung. Während die Aufführung vom Publikum akklamiert wurde, war der Kritiker der verlässlich antisemitischen Reichspost „versucht“, „nach der ersten für die Geistesverfassung dieses Mannes so bedeutsamen Silbe ‚Bett‘ ein ,s‘ einzuschmuggeln, der seine Unterleibsgeräusche für poetische Herztöne hält und den brennenden Ehrgeiz verspürt, auf Klosettpapier eine neue Epoche deutschen Schrifttums heraufzuführen“. (11.10.1924) Mit diesen Fäkalassoziationen konnte die vornehme Neue Freie Presse, die interessanterweise den Mordanschlag auf Bettauer nicht verurteilte, nicht mithalten: „Nicht etwa die Polizeizensur, wohl aber jene des Geschmacks und des primitivsten Reinlichkeitsgefühls müssen gegen solchen Missbrauch der Bühne zum Schutz der wehrlosen Anlagen des Publikums mobilisiert werden.“ (11.10.1924) Das Neue Wiener Journal sprach von einem „Machwerk von penetranter Erotik und unsäglicher dramatischer Ohnmacht“. Die Ablehnung von Bettauers „Erotik“ in diesem und in anderen Beispielen führt unweigerlich zur Frage, wie denn sein Frauenbild aussah und was dieses mit Erotik zu tun hatte. Darauf gibt es zwei Antworten: es gibt das junge, arme, schützenswerte Opfer, das einer bösen Männerwelt ausgesetzt ist und ihr eigenes Leben nicht bestimmen kann. Dieser Typ ist in seinen vielen Sozialfeuilletons über die Jahre mit Schicksalen anzutreffen, die er später scheinbar eins zu eins auch in seine Romane einfließen lässt. Es gibt dann das moderne, mondäne Weib der Neuzeit, das „situationselastisch“ sein Geschlechtsleben auslebt. Zum Erscheinen des Frauenbilds muss man sagen, dass Bettauer kaum ein Klischee auslässt und dass manche Darstellungen, die 1925 „erotisch“ gewirkt haben mögen, heute auf uns eher als Parodie wirken. Ein Roman unter vielen, der in dieser Beziehung einiges hergibt, ist Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute.
Im April 1924, quasi auf dem Höhepunkt des „Bettauer-Skandals“, erschien die erste Fortsetzung des Romans in dem von Imre Békessy zwei Jahre davor gegründeten Blattes Die Stunde. Mit anderen Worten jener Zeitung, die häufig als „Revolverblatt“ bezeichnet wurde und gern Erpressungsgeld für die Nichtveröffentlichung von pikanten Geschichten aus der Wiener Gesellschaft verlangte. Bei Bettauer sind die Untertitel seiner Bücher „Ein Roman vom Tage“, „Ein Wiener Roman aus unseren Tagen“, „Kriminal-Roman aus der jüngsten Zeit“, „Ein Roman von Heute“ wörtlich zu nehmen, denn bei seinen Fortsetzungsromanen wurde nicht einfach ein fertiger Textkorpus über Tage und Wochen portioniert. Bettauer hat wie in einer Tageschronik seinen Text laufend geschrieben, heute für die morgige Zeitung. Angesichts des übelbeleumdeten Herausgebers kommt es nicht als Überraschung, dass wenige Tage nach Beginn des Erscheinens mehrere Leser in Zuschriften an die Redaktion der Zeitung gegen den Fortsetzungsroman protestieren. Sie sehen den Grundsatz der Unantastbarkeit des Privatlebens als verletzt. Zeitgenossen konnten wahrscheinlich jede einzelne Romanfigur erkennen. Ähnliche Kritik gab es anlässlich des Erscheinens des Romans Die freudlose Gasse, der von manchen Zeitgenossen auch als Schlüsselroman gesehen wurde. Natürlich musste Bettauer, um überhaupt eine dramatische Handlung aufzubauen, zu Frauendarstellungen greifen, die ihm nicht unbedingt sympathisch waren und seinen theoretischen Äußerungen in den Feuilletons widersprachen.
Kurz zum Inhalt des Romans: Der durch Börsengeschäfte immens reich gewordene Paul Mautner verliert durch einen Aktiensturz sein ganzes Vermögen. Um seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren, geht er als Lebe- und Ehemann eine Verbindung mit der schon zwei Mal verheirateten, steinreichen 33jährigen Gesellschaftsdame Sonja Gordon ein. Der Haken dabei: Sonja Gordon, die eine 18jährige Tochter aus einer früheren Ehe hat, lebt in einer lesbischen Beziehung mit einer aus Sachsen stammenden Komtesse namens Magda Huttwitz. Bald verwandelt sich Mautners „Zweckliebe“ in Hass, vor allem gegenüber der Komtesse, und er entschließt sich, beide umzubringen, und zwar mit einem exotischen Schlangengift. Doch ein korrupter Privatdetektiv, der es auf die umfangreiche Schmucksammlung abgesehen hat, kommt ihm zuvor. Die sich umarmenden Damen sterben einen qualvollen Tod durch Schlangengift, und der Mordverdacht fällt sofort auf Mautner, der hieb- und stichfeste Motive hätte. Mit der Hilfe des stets edlen, befreundeten Journalisten, Fritz Landau, wird der Fall geklärt. Als halbwegs geläuterter Mann wandert Paul Mautner nach Amerika aus, um ein neues Leben zu beginnen.
Eine Fußnote dazu: Bettauer tritt, hier als Landau, auch in den Romanen Kampf um Wien und Die freudlose Gasse als großartiger „Frauenversteher“ in Erscheinung. Das hört sich so an: „Fritz Landau war heute der gehaßteste, beliebteste, gefürchtetste und verehrteste Feuilletonist Wiens. Sein Gebiet war Sozialpolitik und Erotik, er verband beides zu einer sozial-erotischen Weltanschauung, verteidigte das Recht der Frau, wurde von allen impotenten, innerlich irgendwie verdreckten Männern, denen er die Frauen aufhetzte, gehaßt, von den Frauen dafür geliebt und von den Jungen verehrt. (…) Da Fritz Landau über Frauen schrieb und die Frauen immer wieder in Schutz nahm, konnte es nicht ausbleiben, daß Frauen aus allen Ständen und jeder Art sich an ihn wendeten, um ihm ihr Leid zu klagen, ihn um seinen Rat und Trost zu bitten.“ So viel zu Bettauers Selbsteinschätzung! Auffallend im Entfesselten Wien ist die handlungsbedingt negative Darstellung der zwei Hauptprotagonistinnen: Sonja Gordon, die in ihrer Person nach Meinung Landaus die entfesselte Stadt Wien zu verkörpern scheint, und Komtesse Magda Huttwitz. Sonja „hat mit der Vergangenheit der Frau gebrochen und ist doch auch das neue Weib nicht. Sie ist Sexualanarchistin und legt Wert darauf, ehrbare Gesellschaft um sich zu sehen. Der Mann ist ihr Sache, Objekt, Instrument und doch heiratet sie dich, um festen Boden zu bekommen (…) Sie ist ein entfesseltes Weib und will doch die große Dame sein“. Also nicht gerade der neue Frauentyp, den Bettauer sehen will. Denn sie ist, so Lebemann Mautner, „eine Bestie, (…) ein perverser Dämon“. Aber eine schöne Frau ist sie allemal. Es ist von ihrer „blendenden Schönheit mit rabenschwarzem Haar, (…) ihrem „fürstlichen Auftreten“, von der „marmorweißen Schönheit ihres Körpers“ die Rede. Sie setzt ihren Sex appeal auch gekonnt ein: „Frau Sonja lehnte sich jetzt mit überschlagenen Beinen, deren köstliche Linie man fast bis zum Knie verfolgen konnte, zurück.“ Die Verlobung mit Mautner ist nicht ohne Erotik, wenn auch mit schalem Nachgeschmack: „Mit halb geöffnetem Munde ließ sie sich zuerst bewegungslos küssen. Bis sie plötzlich zur auflodernden Flamme wurde und seine Zärtlichkeit mit einer wilden, ungehemmten Gier erwiderte, wie er sie noch nie erlebt hatte. Mit einer Gier, die ihn abstieß und ihn das Furchtbare der Zukunft erkennen ließ. Gekauft wie eine Sache, genommen wie eine käufliche Dirne.“ Das kann nicht gut ausgehen, ist man versucht zu sagen. Bettauers Befürwortung bzw. Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Liebe in der Theorie, wenn man so will, steht in starkem Gegensatz zur Darstellung im Roman. Das erkennt man an der Charakterzeichnung der Komtesse: Sie war „ein mageres, blondes Mädchen von undefinierbarem Alter. Es konnte zwanzig oder auch dreißig sein. Stammte aus Sachsen“. Man sagte ihr „außerdem allerlei kleine Absonderlichkeiten“ nach. „Zum Beispiel ihre fanatische Liebe zu Frau Sonja.“ Ja, in Wien erzählte man „von ihren seltsamen Neigungen, von nächtlichen Orgien, die in ihrer Villa in der Weimarerstraße veranstaltet wurden“. Bei einer Begegnung zwischen Mautner und der Komtesse heißt es: „Paul war es, als würden die gelblichen, feuchten Augen der sächsischen Komtesse aufleuchten wie Katzenaugen.“ Es gab aber auch Zeiten, wo sie „recht attraktiv“ aussah, also immerhin. Insgesamt ist die Einschätzung negativ: „Diese Magda schien ihm Symbol des Lasters zu sein, in ihren schimmernden Augen schlummerte entfesseltes Mänatentum, Männerhaß, verirrte Gier.“ Kein Wunder, dass sich Mautners Abneigung steigert: „Immer diese Magda – fühlen Sie sich denn wirklich so verwachsen mit dieser semmelblonden sächsischen Gräfin?“ Die beiden werden auch im Tod zusammenbleiben, und Mautner muss nicht die „perversen Launen der beiden Weiber“ ertragen.
Was Frauenfiguren betrifft, gibt es doch eine Lichtgestalt in der Person der Tochter des „raffinierten Luxusweibes“ Sonja Gordon, Jutta Oblonska. Sie ist die „kleine zarte“ Jutta, die „liebliche kleine Jutta“. Zitat: „Jutta aber – war sie nicht die Verkörperung seines Ideals in ihrer schlanken, taufrischen Mädchenhaftigkeit?“ Sie war „ein zartes, zierliches Mädchen, sah fein und schön wie ein Meißner-Porzellanpüppchen aus“. Der Kontrast zwischen Mutter und Tochter könnte nicht größer sein: „Und er (Mautner) sah Frau Sonja Gordon in ihrer brutalen, animalischen Sinnlichkeit vor sich und gleich darauf die liebliche, kleine, schlanke Jutta Oblonska, die ihrer Mutter so unähnlich war, daß man die Blutsverwandtschaft nicht begreifen konnte.“ Je mehr sich die Beziehung zu Sonja verschlechtert, desto stärker wird Mautners verbrecherische Neigung zu seiner Stieftochter, Jutta, ja „desto unbändiger wurde seine Gier nach Jutta, die ihm in ihrer zarten Körperlichkeit und Geistigkeit Ideal des für ihn geschaffenen Weibes zu sein schien“. Ja Jutta „Dieses liebliche, feine Menschenkind, dieses seltsame Produkt aus östlicher Wildheit und westlicher Kultur“. Es kommt zu einem Happy End: Jutta und Fritz Landau schließen den Bund fürs Leben.
Abschließend ein Wort zur Filmversion des Romans. Bettauers Romane lieferten beliebte Filmvorlagen, wobei man generell nicht von „Verfilmungen“ sprechen kann. Es waren – in neun nachgewiesenen Fällen – Filme nach einem Roman von Hugo Bettauer, ja oft hatten die Filmhandlungen kaum etwas mit dem Roman zu tun. Das entfesselte Wien kam unter dem Titel „Schwüle Stunden“ oder „Andere Frauen“ 1928 in die Kinos. „Andere Frauen“ bezieht sich auf die Tatsache, dass die lesbische Beziehung im Vordergrund des Filmspiels stand. Wie im Roman wurden die Damen mit Schlangengift ermordet. Die Kritiken waren zum Teil vernichtend. Fritz Rosenfeld von der Arbeiter-Zeitung meinte: „dieser Film ist die ärgste Blamage, die sich die österreichische Filmindustrie bisher geholt hat, und die andre: ein Publikum, das solchen Mist stillschweigend erduldet, ist hoffnungslos.“ Rosenfeld an anderer Stelle: „Der eine [Film] ‚Das entfesselte Wien‘ oder ‚Seine Hoheit der Eintänzer‘, ist so haarsträubend unsinnig und in jeder Szene so ganz und gar unmöglich, daß man nicht begreift, wie dieses Drehbuch angenommen und ausgeführt werden konnte.“
Ich komme jetzt zum Schluss. Als selbsternannter Sexualaufklärer – und seine Wochenschriften sollten diesem Zweck dienen – war Bettauer in der Stadt Sigmund Freuds gewiss nicht Vorreiter, aber er hat jene Themen, die im „entfesselten Wien“ der Nachkriegszeit, die „alle Fesseln der Tradition zerbrochen“ hatte, in der Luft lagen, in einer verständlichen Sprache popularisiert. Und er zahlte auch den Preis dafür. Freilich sind so manche Themen der damaligen Zeit heute politisch-gesellschaftlich abgehakt, wenn auch nicht zu jedermanns Zufriedenheit. Am Wort „Erotik“ – verwertet noch dazu von einem „Juden“ – entzündete sich eine pogromartige Stimmung in Wien in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, die in einem Mordanschlag gipfelte. Bettauers viele populäre Romane sind keine „hohe Literatur“, aber für Leser und Leserinnen, die in die Atmosphäre dieser Zeit eintauchen möchten, sind sie der leichten Lektüre wert. Dass sich dabei Diskrepanzen in Bettauers Frauenbild auftun, muss man in Kauf nehmen.