Buch, Buchhändler und Bibliothek

Murray G. Hall. Zu einem Bericht der Historikerkommission.

Am 23. Februar 2003 hat die im Herbst 1998 von der Bundesregierung eingesetzte Historikerkommission der Republik Österreich ihren Schlußbericht der Öffentlichkeit präsentiert. Zum einen handelt es sich um eine 445 Seiten umfassende Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse einer sehr breiten Palette von Themen in Zusammenhang mit dem Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zum anderen handelt es sich um 53 Berichte über einzelne Projekte, an denen an die 160 Forscher gearbeitet haben. Gesamtumfang 14.000 Seiten. Vorerst sind diese Berichte in verschiedenen Dateiformaten im Internet verfügbar www.historikerkommission.gv.at, doch ist eine Veröffentlichung in Buchform bereits geplant. Sie sollen in einem deutschen Verlag herauskommen.

Alles in allem – und das Mandat der Regierung war sehr umfassend – haben wir es hier mit dem größten systematischen Versuch einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Zeit zu tun.

Nicht alle in Schlagzeilen verwertbaren Ergebnisse waren erst nach der Präsentation der Berichte gänzlich unbekannt, so etwa, dass die österreichischen Juden ihre „Vernichtung selbst finanziert“ hätten, dass die Republik seit dem 2. Weltkrieg wohl etwas unternommen hätte, um Vermögenswerte zu restituieren, oder dass Maßnahmen zur Rückstellung und Entschädigung oft nur „halbherzig“ und teilweise recht zögerlich erfolgten. Wer sich mit einzelnen Fällen schon früher beschäftigt hat, wusste das alles schon lange. Auch dass Österreich mit der sog. „Opferthese“ sehr lang sehr gut leben konnte.

Eine Aufarbeitung der „Arisierung“ im Bereich Buchhandlungen, öffentliche und private Bibliotheken und Büchersammlungen gehörte nicht zur (spezifischen) Aufgabe der Historikerkommission. Daher überrascht es, dass ein Projekt („Spuren des Verlustes. Über die Arisierung des Alltags“) von Niko Wahl und Mirjam Triendl sich eher beiläufig und schon gar nicht systematisch mit einem Zipfel dieses Themas befasst. In essayistischer Form geht die Arbeit der Frage nach der Bedeutung von „Verlust“ in Zusammenhang mit geraubten Alltagsgegenständen, von Hausrat nach, abseits der „hohen Politik“. Grob gesprochen ist das Ergebnis eine Mischung aus Erlebnisaufsatz in der Mittelschule und einer aufgeblähten Proseminararbeit. Anders als bei dem schaumschlagenden Duo Walzer und Templ (Unser Wien. Arisierung auf österreichisch, 2001), die bestenfalls provozieren wollten, wollen Wahl und Triendl bewusst „Geschichten“ erzählen, Geschichten über alltägliche, „arisierte“ Gegenstände. Gewiss eine aparte Annäherungsweise an ein solches Thema.

Gleich im ersten Kapitel geht es um Bücher: „“’… deren Wert nicht so sehr ein materieller […] ist.’ Arisierung/Verlust von Büchern“ (S. 12ff.) Die Beispiele scheinen rein willkürlich gewählt worden zu sein, aber wenn sie etwas zum globalen Thema beitragen, mag das von sekundärer Bedeutung sein. Ihre Wahl fiel beispielsweise auf ein Werk von Josef Weinheber – gekauft am Flohmarkt –, dann auf das Antiquariat Alois Reichmann in der Wiedner Hauptstraße, und schließlich auf den Wissenschaftler Norbert Jokl und dessen wertvolle Bibliothek. Zwischendurch und willkürlich kommt das Schicksal der privaten Bibliothek von Stefan Zweigs Verleger Herbert Reichner zu Ehren. Motto: da haben wir auch ein Dokument gefunden.

Doch wenn man sich mit persönlich zuordenbaren Gegenständen, wie in diesem Fall Büchern, befasst, dann ist man verpflichtet, nach relevanter Forschungsliteratur Ausschau zu halten und nicht nur (selbständige) Publikationen auszuwerten, die im Onlinekatalog einer beliebigen Bibliothek zu finden sind. Und in dieser Arbeit ist man fast geneigt zu sagen, dass zwar längst bekannte wissenschaftliche Literatur, nicht aber neuere Forschungsergebnisse herangezogen werden. Wenn man sich auf konkrete Fallbeispiele wie Alois Reichmann, Herbert Reichner oder Norbert Jokl (und hier ist die Unkenntnis einschlägiger Literatur besonders ausgeprägt) kapriziert, dann hat man die Pflicht, den Stand der Forschung zur Kenntnis zu nehmen. Zugegeben, die Verf. können sich teilweise darauf berufen, dass die Arbeit 2001 abgeschlossen wurde. Das ändert nichts an der Tatsache, dass jüngere Forschung wie zum Beispiel die Arbeiten über den Raub der Bücher bzw. jüdische Bibliotheken von Evelyn Adunka, Richard Hacken und Otto Seifert, um einige zu nennen, nicht berücksichtigt werden. Von unselbständigen Arbeiten will ich gar nicht reden, auch nicht von einschlägigen Informationen, die seit längerer Zeit selbst im Internet verfügbar sind. Und wenn wir gerade bei „Quellen“ sind: die Literaturangaben (ungedrucktes Quellenmaterial) sind vollkommen ungenügend. Von einer namentlichen Liste von Institutionen, wo manches Material gefunden wurde, hat der Leser/die Leserin überhaupt nichts, wenn er/sie nicht weiß, um welche Bestände es sich handelt. Wenn man an diesem Thema weiter arbeiten möchte: was haben die Verfasser angeschaut? Ein schlichtes Beispiel: „Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien“. Was ist das? Die Terminologie lässt zu wünschen übrig. Es wird auch sehr viel aus Akten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zitiert. Ist das ein Eigenbestand bestehend aus Fotokopien? Man weiß es nicht, wir erfahren es nicht.

Zwei Fälle verdienen eine nähere Betrachtung: Antiquariat und Buchhandlung Alois Reichmann in der Wiedner Hauptstraße im 4. Bezirk und der zitierte Fall Herbert Reichner und dessen Privatbibliothek. Hier hätte eine Suche in „Google“ unter ‚Alois Reichmann‘ zum Ziel geführt. Im Sinne von „oral history“ ist es durchaus lobenswert, hier ein Interview zu führen, keine Frage, nur: gerade in diesem Fall wäre es nützlich gewesen, auf vorhandene Forschungsarbeiten zurückzugreifen oder zumindest den relevanten Akt der Vermögensverkehrsstelle im Österreichischen Staatsarchiv auszuwerten. Da wären die Verfasser auch fündig geworden. (Bei Jokl hat man das Vermögensverzeichnis gesucht – und nicht gefunden – bei Reichmann offenbar nicht.) Man hat fast den Eindruck, dieser Bestand ist ihnen unbekannt. Dem Leser mitzuteilen, es habe im 4. Bezirk drei „arisierte“ Buchhandlungen gegeben, ohne sie zu nennen oder eine Quelle anzugeben, hat kaum Informationswert.

Bei Herbert Reichner hingegen können die Verf. tatsächlich Neues beisteuern, selbst wenn der ungeübte Leser nirgendwo erfährt, wer Reichner eigentlich war. Offenbar sind die Verf. bei ihrer unsystematischen Suche zufällig auf einen Bericht des „Ö.A.K.“ (= Österreichisches Auswertungs Kommando) aus dem Oktober 1938 gestoßen. „Im Laufe des Jahres (1938) wurden weitere Bestände nach Berlin geschickt, darunter die Bibliothek des Buchhändlers [sic!] und Verlegers Herbert Reichner.“ Wer hier einen Beleg sucht, sucht vergeblich: eine Anmerkung verweist auf die „Arbeit des Ö.A.K.“ (92) Hier ein Zitat aus dem von Wahl/Triendl aufgefundenen Dokument:

„Die Kisten, die am 14.12. im SD-Hauptamt angekommen sind, enthalten das Material aus der Bibliothek Reichner, Buchhändler in Wien. Die Absendung erfolgte auf die von SS-Standartenführer Dr. Six an Dr. Blaschko, Stapo-Leitstelle Wien, ergangene Weisung, dass das Material nach Berlin zu überweisen sei. […] Anm. 93

Am 10. Jänner 1939 erfolgte die Durchsicht obiger Bibliothek, die in 56 Kisten verpackt von Wien nach der Eisenacher Strasse überführt worden war, wo sie im Tresor untergebracht wurde. Aus dem anliegenden Bericht von O‘scharf. Fischer geht hervor, dass es sich im wesentlichen um bibliophile Werke – darunter kostbare Handschriften – handelte, sowie um einen bibliographischen Handapparat. „An verbotenem Schrifttum wurden lediglich 2 Werke festgestellt.“ [Anm. 94] Unter den bibliophilen Werken Herbert Reichners befanden sich unter anderem ein illustrierter Dickens und eine Stephan Zweig-Gesamtausgabe in Ganzleder, sowie ein Parzival von Wolfram von Eschenbach, der – als Geschenk für einen Gruppenführer – der Bibliothek entnommen wurde. [S. 32]

Anm. 92: vgl. zur Arbeit des Ö.A.K.: LA Berlin. Brep. 039-01, Nr. 338.

Anm. 93: „An das SD-Hauptamt, z.Hd SS-Untersturmführer Burmester von: SD-Führer des SS-Oberabschnitts Donau, Der Leiter der Hauptabteilung II gez. Polte, SS-Hauptsturmführer“. LA Berlin, ZB 1, Nr. 1339.

Anm. 94: „O.A.K. Berlin, den 11. Jan.1939. An II 1 z.Hd. von Staf. Six. Betr.: Bibliothek des Verlages Reichner in Wien“. LA Berlin, ZB 1, Nr. 1339.

Die Zufälligkeit und – eo ipso – willkürliche Publikation dieser gewiss interessanten Dokumente wird durch den Umstand unterstrichen, dass auch die Österreichische Nationalbibliothek eine bei Adunka (Der Raub der Bücher und Hall, u.a.: Stefan Zweig und der Herbert Reichner Verlag. In: Friedrich Gaede u.a. (Hrsg.): Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition. Festschrift für Anthony W. Riley. Tübingen: Francke Verlag 1994, S. 157-166) angeschnittene Rolle spielte. Wenn die vorhandene Literatur herangezogen worden wäre, hätte dieser neue Fund einen Kontext gehabt. Leider haben die Verfasser es verabsäumt, die Gelegenheit wahrzunehmen.


Evelyn Adunka

Einige Ergänzungen zu dem von der österreichischen Historikerkommission herausgegebenen Bericht von Helga Embacher über „Die Restitutionsverhandlungen mit Österreich aus der Sicht jüdischer Organisationen und der Israelitischen Kultusgemeinde“

Vorweg sei gesagt, dass der Bericht sehr viele neue und bisher noch nirgendwo dargestellte Einzelheiten zum Thema bringt.
Aber aus persönlichen Gründen hat die Autorin es in einzelnen Fällen verabsäumt, zusätzliche Informationen zu suchen oder sich nach diesen zu erkundigen. Eine Chance, die Öffentlichkeit noch etwas genauer über ihr Thema aufzuklären, wurde dadurch verabsäumt.
Auf S. 6 zitiert sie ältere Arbeiten über die österreichischen Juden, darunter auch einen noch unveröffentlichten Aufsatz, nicht jedoch das Buch der Verfasserin dieses Artikels (Exil in der Heimat. Über die Österreicher in Israel. Innsbruck-Wien 2002).
Hätte sie dieses Buch eingesehen, hätte sie vermutlich auch zwei Namen, die darin ausführlich erwähnt werden, korrekt geschrieben: David Zwi Pinkas (nicht Pinka) auf S. 11 und Yomtow Ludwig Bato (nicht Yomto Ludwig Bato) auf S. 64.
Sie hätte in dem Buch auch über Josef Lamm, Jehoshua Guvrin, Zwi Kraemer (bei ihr erwähnt u.a. auf S. 64) nachlesen können.
Die Tendenz zur Kontextualisierung führt dazu, dass wichtige Angaben über Personen, über deren Tätigkeit und Engagement die Autorin sehr viel schreibt, unterbleiben.

So war Franz Rudolf Bienenfeld nicht nur ein „Rechtsexperte“, sondern ein bekannter Wiener Rechtsanwalt, Vorsitzender der österreichischen Sektion des World Jewish Congress und Autor zweier wichtiger Studien zur jüdischen Geistesgeschichte.[i]
Oft werden den handelnden Personen nicht einmal die Vornamen gegönnt. So bei (David) Schapira auf S. 43, (Stephen J.) Roth auf S. 49 und dem evangelischen Pfarrer (Felix) Propper auf S. 84. Propper war nicht einfach nur ein „evangelischer Pfarrer“, sondern ein früherer Rechtsanwalt und der Präsident der Judenchristlichen Allianz in Österreich.[ii]
Über den mehrmals in den Anmerkungen zitierten „Landauer“ erfährt der Leser nicht, dass es sich um den deutsch-jüdischen Funktionär Georg Landauer handelte.

Über den Londoner Zweig der orthodoxen Agudah Israel fehlt der Hinweis, dass dieser damals von Harry A. Goodman geleitet wurde, den viele persönliche Beziehungen mit Österreich verbanden. (S. 61)

Bei Josef Rubin Bittmann wird der fälschliche Eindruck erweckt, dass er ein Mitglied der IKG Graz war. (S. 71)
Der Konflikt zwischen Benjamin Schreiber und Emil Maurer wird zwar erwähnt, nicht jedoch, dass Schreiber 1954 eine Interessengemeinschaft der Alt-Österreicher gründete und 1955 das Mitteilungsblatt Jüdische Interessengemeinschaft herausgab, was in diesem Zusammenhang absolut wesentlich war. (S. 154)[iii]

Bei der Gedenkveranstaltung in einer New Yorker Synagoge am 12. März 1954 sprach auch der prominente Rabbiner und Ehrenpräsident des American Jewish Congress Israel Goldstein. (S. 106)[iv]

Den erwähnten Artikel zum 70. Geburtstag Armand Eislers in der Arbeiter-Zeitung zitiert sie nicht mit Datum; er wäre über das Wiener Tagblattarchiv sehr leicht zugänglich gewesen und enthält einige interessante, allerdings zu überprüfende biographische Einzelheiten über Eisler. (S. 62)[v] 
Die Aktivisten der „Word Association of Jews (Portman, Fleischmann)“, das heißt der „Weltvereinigung der Juden zum Schutze ihrer Rechte“, werden zwar in der zitierten Formulierung in einer Anmerkung namentlich erwähnt. (S. 210) Es wäre aber für den Leser ganz interessant gewesen, zu erfahren, dass es sich bei Fleischmann um den ehemaligen Wiener Kürschner Moriz Fleischmann handelte, dem einzigen österreichischen Zeugen beim Eichmann Prozess, der mitunter auch falsche Angaben über sich selbst verbreitete. (So 1969 im Jewish Chronicle was zu einer Entgegnung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde führte).[vi]

Der ehemalige österreichische Rechtsanwalt, Fritz L. Brassloff, der im Bericht einige Male erwähnt wird, schrieb 1958 in einem Brief an Wilhelm Krell über Fleischmann: „Fleischmann ist ein ausgesprochener Querkopf mit querulantischen Tendenzen. Er hat waehrend des Krieges Herrn Dr. Bienenfeld in der Jacob Ehrlich Society ‚bekämpft‘.[vii]

Die israelische Gruppe der „Weltvereinigung der Juden zum Schutze ihrer Rechte“ wurde von Shmuel Schoenblum und F.V. Rosenmann geleitet. Auch hier fehlen die Hinweise, dass es sich bei Schoenblum um einen früheren Wiener Rechtsanwalt handelt und bei Rosenmann um den Sohn des prominenten Wiener Rabbiners Moses Rosenmann handelte. Der Name Rosenmann kommt überhaupt nicht vor.
Bedauerlich ist auch, dass sich in dem Bericht keine Anmerkungen über die Quellenlage finden. So ist zum Beispiel nicht klar, ob die Verfasserin in die erwähnte Broschüre Chancellor Raab – How long must Hitler’s victims wait for compensation? Einsicht nehmen konnte. Falls nicht, wie es den Anschein hat, hätte dies unbedingt vermerkt werden müssen. (S. 129)

Wäre die Autorin auf die Quellenlage genauer eingegangen, hätte sie weiters vermerken können, dass sich die Mitteilungen der einige Male erwähnten Jacob Ehrlich Society nur fragmentarisch erhalten haben. Das wäre eine für den Leser nicht uninteressante Zusatzinformation gewesen.
Hingewiesen sei zuletzt auch noch darauf, dass die Autorin die Signaturen des Archivs der IKG falsch zitierte; aus nicht nachvollziehbaren Gründen nannte die Bestandsgruppe der entsprechenden immer zwei Mal, zum Beispiel: „XXV Ad, ADB2“. Wenn sie frühere Zitierungen beachtet hätte, hätte sich dies vermeiden lassen.


[i] Nachzulesen an vielen Stellen, zusammengefasst in einem Aufsatz der Verfasserin über Bienenfeld in der Zeitschrift David, Juli 2000.
[ii] Nachzulesen in: Monika Nüchtern: Vergangenheitsbewältigung der EKIÖ. Eine Untersuchung zum Problem Juden und Christen in der Zeit von 1945-1965. Proseminararbeit, Wien 1985. (Archiviert in der Fakultätsbibliothek für Evangelische Theologie Wien).
[iii] Nachzulesen in dem Buch der Verfasserin: Die vierte Gemeinde, Berlin-Wien 2000, S. 191, das an einer anderen Stelle des Berichts zitiert wird.
[iv] Nachzulesen in ebd., S. 189.
[v] Arbeiter-Zeitung, 12.5.1950.
[vi] Jewish Chronicle, 30.5.1969.
[vii] 15.10.1958, C 2 556, Central Zionist Archives, Jerusalem.

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