Ein Abend für Hugo Bettauer

Am 18. Juni 2002 wurde am Haus Lange Gasse 21 im 8. Wiener Gemeindebezirk eine Gedenktafel für den im Jahre 1925 ermordeten jüdischen Schriftsteller und Journalisten Hugo Bettauer (1872-1925) enthüllt. Die Redaktion seiner populären Wochenschrift “Bettauers Wochenschrift. Probleme des Lebens” befand sich im Haus Lange Gasse 5-7. Der folgende Vortrag wurde im Rahmen eines von Kulturraum 8 (A41 Galerie im Hof) veranstalteten “Abends für Hugo Bettauer” gehalten:

Es ist nicht jeder Schriftsteller oder Journalist – und darüber können wir wohl glücklich sein – zu einem “Fall” geworden. Es geht hier auch nicht um einen österreichischen Autor, der wohl vergeblich darauf warten wird, in den Literaturkanon aufgenommen zu werden. Das Reizvolle, das für uns heute Faszinierende, an diesem Fall, ist nicht so sehr das literarische Werk an und für sich und die politischen Kontroversen um seine Person auf der anderen Seite, sondern eine Mischung von beiden. Niemand wird ihn für einen genialen Dichter halten, aber vor allem die “Wiener Romane” Hugo Bettauers gewähren uns trotz des fiktionalen Elements einen einmaligen Einblick in das gesellschaftliche und politische Leben Wiens in den ersten Jahren der jungen Republik. Er zeichnet ein grelles Bild von der Stadt und vom politischen Leben, von sozialen Missständen. Er ernennt sich gleichsam zum obersten Sozialarbeiter und Seelentröster der Stadt. Durch seine Romane wird der heutige Leser in die Tagespolitik, in die Bankenwelt, in die Welt der Neureichen, der Kokainsüchtigen, der Alkoholiker, der Arbeitslosen, der Obdachlosen, der Zukurzgekommenen, in die Elendsquartiere der Großstadt, in die Welt der zeitgenössischen Literatur und vieles mehr durch einen “Insider” eingeführt.

Sie sind Zeitschilderung und Zeitkommentar. Anders formuliert, man muss diese Romane heute im Kontext des damaligen sozialen und parteipolitischen Spannungsfeldes lesen. Sie blicken nicht wehmütig zurück, um – durch Verdrängung – eine Zeit, die endgültig vorbei ist, nostalgisch wieder auferstehen zu lassen. Sie blicken vielmehr direkt in den Tag, in die unmittelbare Gegenwart. Bettauer hat bestimmte gesellschaftliche Fragen, etwa im Sexualbereich, nicht als erster öffentlich thematisiert, er hat sie aber vielfach popularisiert. Er war eine Art “Frauenrechtler”, kämpfte um das, was man heute als “Women’s Lib issues” bezeichnen würde, er trat neben den Sozialdemokraten für eine Entkriminalisierung des berüchtigten Abtreibungsparagraphen, § 144, ein. Er vertrat die Ansicht, dass auch Prostituierte das Wahlrecht haben sollten und ließ gar unter seinen LeserInnen fragen, ob eine verheiratete Frau nicht ihren Mädchennamen beibehalten dürfen sollte.

Bettauer wurde 1872 in Baden bei Wien geboren, besuchte das Gymnasium in Wien – nämlich die Stubenbastei – und kam in seinen späten Zwanzigern mit dem Journalismus in Berührung. Bereits während seiner Tätigkeit Anfang des Jahrhunderts in New York für deutschsprachige Zeitungen des Hearst-Konzerns zeigte er die Begabung, Leser fesselnde, gegenwartsbezogene Romane in Fortsetzungen zu schreiben. Dass er fünf Romane in einem Jahr schrieb, deutet auf die spätere Produktion hin. Mit 18 Jahren tritt er aus der jüdischen Gemeinde aus und wird evangelisch. Er geht nach Amerika und kehrt als U.S.-Staatsbürger 1908 wieder nach Österreich zurück, wo er in Wien für diverse Zeitungen arbeitet.
1920 erscheint Bettauers erste Buchveröffentlichung, der Roman Faustrecht. Auf Faustrecht folgt Hemmungslos. Kriminalroman aus der jüngsten Zeit (1920), dann Bobbie oder die Liebe eines Knaben. Alle drei Werke sind kurz darauf auf der Filmleinwand zu sehen. Im Jahre 1922 erscheinen nicht weniger als fünf neue Bettauer-Romane, darunter einer, der das ‘Thema des Tages’ aufgreift: den Antisemitismus. Er verkauft sich gut, wird in mehrere Sprachen übersetzt, zu einem Drama umgearbeitet und schließlich, etwas verfremdet, verfilmt. Es heißt Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen. Der Inhalt – hautnah an der Zeit – knapp formuliert: Österreich steht vor dem wirtschaftlichen Ruin. Schuld an der Misere – so meint man – seien die Juden. Das österreichische Parlament beschließt deren Ausweisung, nach der das Land verdorft und noch tiefer ins Chaos stürzt. Neuwahlen werden abgehalten und die Juden schließlich wieder zurückgebeten. Wien wird wieder Wien. Das “ganz amüsante Romänchen”, wie Bettauer sein leichtfertig hingeworfenes Buch nennt, nimmt als Ausgangspunkt der “harmlosen Romanhandlung” die Allgegenwart antisemitischer Äußerungen in Wien, den Alltagsantisemitismus, der uns heute, 80 Jahre später und in Kenntnis der Geschichte, sehr befremdet. Aber dieses Phänomen muss vor dem Hintergrund von gesellschaftlich akzeptierten Arierparagraphen (Stichwort: Alpenverein), von judenreinen Sommerfrischen, von weitverbreiteten Antisemitenbünden gesehen werden. Bettauer operiert mit allen erdenklichen Klischees und Stereotypen, hier finden sie ihre Verstärkung und Bestätigung. Sein Plädoyer für Toleranz zwischen Juden und Nicht-Juden geht gründlich daneben. Seine Kritiker gehen nicht gerade freundlich mit ihm um. Da ist von der frechsten Verhöhnung der bodenständigen Bevölkerung, von “bewusst jüdischer Rassenpropaganda” die Rede. 1922/23 erscheint in Fortsetzungen das Werk Der Kampf um Wien. Ein Roman vom Tage, 1924 veröffentlicht er, ebenfalls als Fortsetzungsroman, Das entfesselte Wien. Ein Roman von heute und schließlich Die freudlose Gasse. Ein Wiener Roman aus unseren Tagen.

Aber nun zu dem, was Bettauer eigentlich zum “Fall” gemacht hat … Ich beginne mit einem längeren Zitat, weil es, trotz der Einseitigkeit, die Atmosphäre, in der der Fall gedeihen konnte, gut einfängt. Wir sind im Wiener Gemeinderat.

“Der 21. März ist ein denkwürdiger Tag in der Geschichte des Befreiungskampfes des christlich-deutschen Wien gegen seine jüdischroten Zwingherren. An diesem Tag wurde im Wiener Rathaus die brutale Macht der judensozialistischen Mehrheit von der christlich-nationalen Minderheit in wildem Kampf, Gewalt gegen Gewalt, siegreich niedergerungen. Es handelte sich um den bekannten Bettauer-Skandal. (…).” Womit wir mitten drin im Thema sind. Um Details ist dieser politisch gefärbte Zeitungsbericht über eine nicht alltägliche Sitzung des Wiener Gemeinderats im März 1924 nicht verlegen. Zur Debatte steht ein Zuschusskredit für die Errichtung von städtischen Jugendhorten. Der christlich-soziale Gemeinderat Anton Orel will wissen, welcher Geist in diesen Horten herrschen wird. Der Bericht setzt fort mit der Rede Orels:

“Gibt uns der Geist der derzeit herrschenden Rathausmehrheit die Gewähr für eine gute Beeinflussung der Jugend in den zu errichtenden Horten? Es hat sich in den letzten Tagen ein Fall ereignet, der uns deutlich Aufschluss darüber gibt. Der Jude Bettauer gab eine Zeitschrift heraus, die angefüllt war mit schamlosestem Schmutz, eine wahre Pestseuche für unser deutsches Christenvolk, besonders aber für die Jugend. Es geht nicht an, dass unser Volk durch solche Produkte jüdischer Unmoral zugrunde gerichtet werde! (Beifall bei den Christlichsozialen).” Nach mehreren erfolglosen Mahnungen an Orel, zur Sache zu reden, entzieht ihm Bürgermeister Karl Seitz das Wort. Ich zitiere den Bericht: “Die Wirkung dieser Gewalttat war die den Erwartungen des Seitz entgegengesetzte. Seine Genossen klatschten Beifall, aber die christlichsoziale Minderheit fuhr nun auf. Gemeinderat Preyer: Das ist eine Vergewaltigung! Ein Skandal! Das lassen wir uns nicht gefallen!” Dutzende von Stimmen wiederholen diese Rufe, die von Minute zu Minute stärker werden. Gemeinderat Orel ruft ununterbrochen: Bettauer-Bürgermeister!! Dieser sitzt bleich und hilflos in dem Sturm da, so oft er aber die Glocke schwingt, löst dies nur eine Verstärkung des Sturmes aus. Gemeinderat Orel (zum zweiten Mal zu Wort gelangt): “Und wenn der Bürgermeister nicht weiß, was den Kindern vor die Augen kommen darf, und was nicht, dann muss ich es ihm sagen! (Stürmischer Beifall. Rufe: So ist´s recht). Wenn der Bürgermeister gewusst hätte, was er zu tun hat, dann hätte er diesem Juden einen Fußtritt versetzen und ihn zur Türe hinauswerfen müssen! (Stürmischer Beifall). Ich kann nur mit allem Nachdruck erklären, dass wir uns dagegen mit aller Entschiedenheit zur Wehr setzen, dass uns der Bürgermeister einen schmutzigen jüdischen Geschäftemacher aufdrängt, der unsere Kinder mit jüdischem Gift, mit jüdischer Schweinerei versauen will.”

Bürgermeister Seitz mahnt Orel, dieser schimpft zurück:
“Auf das hin springen die Sozialdemokraten von ihren Sitzen auf und stürmen mit erhobenen Fäusten gegen Orel los. Stadtrat Speiser ist ihr Anführer. Sie schreien: Wir lassen unseren Bürgermeister nicht beleidigen! Von so einem Lausbuben! Lump! Idiot! Ein Teil der Christlichsozialen hat sich ihnen entgegengeworfen und bringt sie in heftigem Streit zum stehen. Ungeheurer Tumult. Gemeinderat Orel (ruft wiederholt): Geht´s heim! Bettauer-Partei! Bald fliegt es ihnen vielstimmig an den Kopf: Bettauer-Partei! Bettauer-Partei! Plötzlich steigt der Sozialdemokrat Kohl über die Sitze und stürzt mit erhobenen Fäusten auf Orel los. Andere folgen seinem Beispiel. Es kommt zum Handgemenge. Gemeinderat Haiser hat sich Kohl entgegengeworfen und ringt mit ihm. Kohl wird niedergezwungen. Der Streit tobt weiter. Erst nach langer Mühe kann sich Bürgermeister Seitz Gehör verschaffen und sagt: Er überlasse das Urteil über die gefallenen Ausdrücke der Vereinigung, der Orel angehöre: Sie seien des Gemeinderates unwürdig.” Auch der österreichische Bundeskanzler, Prälat Ignaz Seipel beteiligte sich an der öffentlichen Diskussion. Seipel meinte, eine solche “Flut von Pornographie” habe es in Wien noch nicht gegeben. notwendig sei eine “Sanierung der Seelen”. Die Sozialdemokraten sprechen von “Prälatenschimpferei”.

Was war passiert? Bettauer ließ im Februar 1924 ein Wochenblatt erscheinen. Der Titel Er & Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik. Gleich in der ersten Ausgabe verkündet er die “Erotische Revolution”, eine Revolution, die, wie er meint, “mehr als jede politische das Leben der kommenden Generationen verändern muss”. Kurz formuliert will Bettauer mit dieser neuen Zeitschrift “die Beziehungen (…) zwischen Mann und Weib aus dem Sumpf einer verlogenen Pseudomoral zur sittlichen, freien Höhe emporheben.” Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt er in Leitartikeln zu Fragen wie der Änderung der Abtreibungsbestimmungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Schutz des unehelichen Kindes oder gar des heftig diskutierten Mieterschutzes Stellung. Er findet es falsch, dass Erotik bloß Sache der Ehe sei und meint, dass die Frau in der Gesellschaft nur scheinbar gleichberechtigt sei. Mit der fünften Ausgabe ist es aus damit. Bettauer wird angeklagt. Die Anklage umfasst zwei Punkte: Vergehen gegen die öffentliche Sittlichkeit und Vergehen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung. Der Staatsanwalt wirft ihm wegen der Kontaktannoncen (“Menschen, die einander suchen”) noch gewerbsmäßige Kuppelei vor. Ein Witzbold meint, die Rubrik sollte besser heißen: “Menschen, die einander versuchen”.
Bei Versammlungen in Wien und anderswo wird laut ausgerufen, an Bettauer Lynchjustiz zu üben. Die regelrechte Hetze gegen Bettauer flaut nicht ab, im Gegenteil, die wüsten Beschimpfungen (“Schlammwühler”, “perverses Kloakentier”, “geiles Untier”, “Schweinehund”, “Industrieritter der Erotik”, “gewerbsmäßiger Pornograph” u.a.m.) werden immer häufiger. Frauen- und Elternvereine stoßen ins gleiche Horn wie Antisemiten, Nationalsozialisten und Christlich-Soziale und stilisieren den Mythos des sittenverderbenden Ungeheuers Hugo Bettauer hoch. Inzwischen gibt Bettauer eine neue Zeitschrift “Bettauers Wochenschrift. Probleme des Lebens” heraus. Beim Prozess im September wird Bettauer von allen Anklagepunkten freigesprochen.

Der Mörder Otto Rothstock

Am 10. März 1925 – Bettauer hält an diesem Tag seine regelmäßige Sprechstunde, seine Seelenordination, in den Redaktionsräumen in der Lange Gasse 5-7 ab – meldet sich ein junger Mann zum Gespräch an. Es ist der 21jährige Zahntechniker Otto Rothstock. Dieser betritt Bettauers Büro, sperrt die Tür hinter sich zu, herrscht Bettauer an, zieht eine Pistole und streckt ihn mit mehreren Schüssen nieder. Er zerreißt alles, was ihm in die Hände kommt, lässt den blutüberströmten Redakteur am Boden liegen und wartet seelenruhig, bis er von der Polizei abgeholt wird. Bettauer kommt ins AKH, wo 16 Tage später stirbt, Rothstock wird wegen Mordes angeklagt. Das Motiv, das er später angibt: er wollte seine Altersgenossen vor sittenverderbenden Typen wie Bettauer schützen. Seine Verteidigung übernimmt – kostenlos – ein prominenter Nationalsozialist, Dr. Walter Riehl. Beim Prozess im Oktober wird Rothstock einstimmig des Mordes und des illegalen Waffenbesitzes für schuldig befunden, nur sind die Geschworenen unschlüssig, ob er zur Tatzeit zurechnungsfähig war. Der Richter verkündet den Freispruch. Der “Fall Bettauer” wird zum “Fall Rothstock”. Der verwirrte junge Mann wird in eine Heilanstalt eingewiesen, aus der er Ende Mai 1927 als freier Mann entlassen wird. Ende des Jahres wird Bettauers Wochenschrift eingestellt. Hugo Bettauer geriet in Vergessenheit, seine Werke wurden erst Anfang der 80er Jahre neu aufgelegt.