Peter Michalzik: Unseld. Eine Biographie. München: Karl Blessing Verlag 2002.
„… jene Mischung aus Interpretation und Recherche, die man wohl Biographie nennt …“
Schlichter geht es nicht mehr. Ohne Firlefanz. Wir haben es mit „Unseld“, dem Eigentümer des Frankfurter Suhrkamp Verlags, und einer „Biographie“ zu tun. Doch den Lebensweg und das Lebenswerk einer lebenden öffentlichen Persönlichkeit zu beschreiben oder die Geschichte einer noch existierenden Firma oder Institution zu verfassen, ist nicht ohne Tücken und Risken. Denn „Experten“, die ihr eigenes Bild vom Mann am Podest haben und gern Vorausnachrufe verfassen, sind fast so zahlreich wie heimische Nationalmannschaftstrainer. Leichter hat es man da, wenn alle schon längst verblichen sind. Widerrede wird es selten geben. Diese Erfahrung haben sowohl der Verlag als auch der Biograph machen müssen, sogar bevor das Buch ausgeliefert wurde.
Der Suhrkamp Verlag belieferte nämlich die Feuilletonredaktionen mit einem 19 Seiten umfassenden Dossier, genannt „Vorläufige Errata-Liste“, eine „naturgemäß“ unvollständige, wohl gemerkt. „Bereits bei der ersten Lektüre war eine außergewöhnlich große Anzahl von Fehlern, Unterstellungen und Scheinzitaten zu erkennen, die der Richtigstellung durch den Suhrkamp Verlag bedürfen“, liest man da, „zumal nicht davon auszugehen ist, daß es dem Blessing Verlag bis zum Drucktermin noch möglich sein wird – (Achtung! Selbstironie!) –, wesentliche Korrekturen einzubringen.“ Doch eine Parallellektüre – hie „Errata-Liste“ von Suhrkamp, da die „Biographie“ Michalziks – liefert nebenbei Stoff für eine weitere Errata-Liste, sozusagen die Korrektur der Korrektur. Suhrkamp schreibt korrigierend z.B. „S. 40. Es wird behauptet, die Wohnung der Eltern wurde Ende 1944 ausgebombt. Auf Seite 48 wird behauptet, die Wohnung sei am 1.3.1945 ausgebombt worden.“ Nur: in der Biographie steht auf S. 40 nichts dergleichen, und es wird auch auf der richtigen Seite, nämlich 41, nirgends behauptet, die Wohnung der Eltern wäre Ende 1944 den Bomben zum Opfer gefallen. Wohl steht aber auf Seite 50 und nicht auf Seite 48 das genannte Datum. Manche Stellen, die von Suhrkamp als „Errata“ angeführt werden, können bestenfalls als Lachnummer dienen. Ob man die Feier des 70. Geburtstags von Max Frisch als „Festakt“ oder „Abendessen“ bezeichnet, grenzt, als „Errata“, wohl ans Läppische. Und daß auf der angegebenen Seite „250“ der Name Max Frisch gar nicht aufscheint, tut auch nichts mehr zur Sache. Und darauf hinzuweisen, daß ein Foto nicht in einem Treppenhaus, sondern in der Rezeption hängt, ist doch schade ums Papier. Überdies: Selten entsprechen die von Suhrkamp inkriminierten Seiten(angaben) dem Buchtext. Die irrigen Errata in ihrer Liste ließen sich beliebig fortsetzen, ein letztes Beispiel mag genügen: Vorwurf: „S. 207. Als [Uwe] Johnson zum 80. Geburtstag von Walter Benjamin die Rede von S.U. vorlas, trug er eine Lederjacke.“ Hat der mißratene Biograph sich dazu verstiegen zu behaupten, Johnson hätte gar einen Frack getragen? Von einer „Lederjacke“ ist jedenfalls auf den Seiten 214-215, wo dieses Ereignis beschrieben wird, keine Spur, und Michalzik spricht einmal von einem „Text“, ein andermal von „Anmerkungen“ – nicht von einer „Rede“.
Unbestreitbar sind dem Biographen leicht nachweisbare Fehler unterlaufen, die zu korrigieren, keines imposanten Verlagsarchivs bedürfen. Es sind beispielsweise viele offenkundige Ungereimtheiten bei Daten und Jahreszahlen, manche Titel falsch wiedergegeben, es gibt Zitierfehler, das muß man festhalten. Es wurde hier z.T. schlampig recherchiert bzw. manche Angaben wurden nicht ordentlich überprüft. Ob die von Suhrkamp aufgelisteten „rechtlich relevanten (was auch immer das heißen mag!) fehlerhaften Darlegungen“ richtig oder falsch sind, kann der Normalleser nicht beurteilen, und für die eigentliche Biographie Unselds sind sie, offen gesagt, ziemlich uninteressant. Es sei denn, man bereitet sich auf ein juristisches Staatsexamen vor. Suhrkamp nennt sie falsch. Aus.
Aber es hieße, dem Buch und dem Biographen Unrecht tun, wollte man dieses knapp 400 Seiten umfassende Werk allein durch die Brille der nicht nur vorläufigen, sondern auch selber fehlerhaften „Errata-Liste“ betrachten oder den Inhalt darauf reduzieren. Über den personalisierten Ton des „Vorworts“ kann man debattieren, Michalzik, der sich mal als „Suhrkamp-Jünger“, mal als „definitiv Mitglied der Suhrkamp-Familie“ bezeichnet, geht von einem persönlichen Zugang zum Verlag und zur Person Unselds aus. Das ist legitim. Aber er ist sich dessen bewußt, „daß es schwierig ist, über lebende Personen Bücher zu schreiben“ – und man braucht hiefür nur das (spannend geschriebene) erste Kapitel zu lesen („Kindheit. Jugend. Krieg. 1924-1945“), um die ganze Problematik zu verstehen: „Stilisierungen sind typisch für Siegfried Unseld, insbesondere was die Zeit des Nationalsozialismus anbelangt.“ Bevor man dem Biographen böse Absicht unterstellen kann, liest man: „Außerdem wurzelt Unselds Stilisierungslust in der Verdrängung wesentlicher Aspekte der Nazizeit, in einer an sich unbegründeten Scham.“
Obwohl dies auf Kosten des flotten, manchmal saloppen, journalistischen Stils gegangen wäre und das Buch wohl um Dutzende Seiten erweitert hätte, wären genaue Quellenangaben, die über das hinausgehen, was der Verfasser unter „Anmerkungen“ versteht, öfter wünschenswert. Auch, um manche Paraphrasen leichter nachvollziehen zu können. Und gerade bei einer „Biographie“ fehlt auch etwas sehr Wesentliches: ein Namenregister. Vielleicht ein Projekt für eine weitere (korrigierte) Auflage?
Es gibt in dieser Biographie – und sie heißt tatsächlich so und nicht “Biografie” (© Suhrkamp) – eine Reihe von für österreichische Literaturkenner interessanten und spannenden Passagen, so etwa über Ingeborg Bachmann (die allerdings nicht über Wittgenstein dissertierte) und vor allem Thomas Bernhard. Übrig bleibt in der Person Siegfried Unselds, ein, so Michalzik, „Großmeister seines Fachs“, dessen Biographie so viele Brüche und Widersprüche aufzuweisen hat, wie die anderer großer deutscher und österreichischer Verleger vergangener Jahrhunderte.
[Eine leicht gekürzte Fassung erschien in Die Presse am 5. Oktober 2002. Spectrum. Seite IV.]