Rezension Seifert: Säuberung

Otto Seifert: Die große Säuberung des Schrifttums. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1933-1945. Schkeuditz: GNN Verlag 2000.

Wenn ein deutscher (Buch-) Forscher a) sich mit der Buchhandels- und Verlagsgeschichte Österreichs/Österreich-Ungarns abgibt, sie gar zur Kenntnis nimmt oder b) die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema in den letzten hundert Jahren überhaupt wahrnimmt, wäre das allein Anlass, die Sektflaschen einzukühlen. Der Leipziger Historiker Otto Seifert hat nun – abseits der laufenden Forschungen der Historischen Kommission – eine Studie vorgelegt, die in erster Linie die Tätigkeit und das Verhalten des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig dem Nazi-Regime gegenüber im Zeitraum 1933 bis 1945 untersucht und bewertet. Ob diese Beurteilung rechtens ist, wurde von seinen Kritikern (u.a. Jan-Pieter Barbian) bereits in Zweifel gezogen. Diese meinen – im Gegensatz zu Seifert – , dass der Börsenverein trotz der höchst fragwürdigen Rolle, die er in der Zeit von 1933 bis 1945 spielte, insgesamt gesehen nicht der Urheber der Unrechtsmaßnahmen, sondern „nur“ das ausführende Instrument der NS-Staatsführung war.

Seifert widmet ein Kapitel seiner fast 300 Seiten umfassenden Studie der Situation in Österreich ab 1938. Die Überschrift lautet: „Die Eingliederung Österreichs – das Manöver für die Kulturbarbarei in Österreich“ (S. 159-193). Der Verf. erkennt gleich zu Beginn das, was man diesseits der Grenze immer gewusst hat, was aber unter deutschen Forschern nicht geläufig ist, (159)nämlich, dass „Österreich (…) für den deutschen Buchhandel der wichtigste ausländische Markt für deutschsprachige Literatur (war).“ Im wesentlichen ist das Kapitel eine Erweiterung eines im Jahre 1998 im Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes erschienenen Aufsatzes (Bücherverwertungsstelle Wien, Dorotheergasse 12. In: Jahrbuch 1998. Hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien 1998, S. 88-94), in dem Seifert uns zum ersten Mal die Institution der Bücherverwertungsstelle vorstellt.
Am 12. März wurden die Räumlichkeiten der wichtigsten Freimaurerloge in Wien, der Loge „Humanitas“ in der Dorotheergasse 12, gestürmt und geplündert. Eben hier wurde im Sommer 1938 auf Geheiß von Goebbels Propagandaministerium durch das Reichspropagandaamt Wien, im Einvernehmen mit der Gestapo und dem Sicherheitsdienst (SD), eine „Bücherverwertungsstelle“ eingerichtet. Es mussten hier die vorhandenen großen Lager von beschlagnahmten Büchern gesichtet und sortiert werden. Wo diese Bücher alle schließlich hinkamen, ist eine Geschichte für sich. Und eine Geschichte, für die sich die Forschung zunehmend interessiert. Zum Zweck dieser Einrichtung schreibt Seifert: „Die ersten Aufgaben der Verwertungsstelle bestanden darin, die bereits vorhandenen großen Lager von beschlagnahmten Büchern und anderen Schriften bei der Gestapo, dem SD und in der Grünangergasse, dem Sitz des Vereins der österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhändler, deren Bestand nur nach Lastwagen gemessen wurde, zu leeren und zu zentralisieren, die noch von der Gestapo geschlossenen Firmen, Lager, Bibliotheken und Privatwohnungen zu räumen und das gesamte Schrifttum zu sichten, um es anschließend vernichten, als Beute verteilen oder gewinnbringend verkaufen zu lassen.“ (S. 180). Die neue Stelle nahm ihre Tätigkeit im August 1938 auf. In der Zeit zwischen dem 1. September und dem 13. Oktober wurden etwa 200.000 Bände angeliefert. Und das war lediglich ein Zehntel von dem, was zu beschlagnahmen war. Ich möchte einen Brief zitieren, den ich im Bestand „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ fand und bei Seifert nicht erwähnt wird. Er ist mit 28. Oktober 1938 datiert, von einem Dr. Lothar Kühne verfasst und an den Gauleiter von Wien, Josef Bürckel, gerichtet. Kühne war lokaler Leiter der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS.-Schrifttums. Reichsleitung der NSDAP (kurz: PPK). Anlass zu diesem Schreiben war eine von Kühne vermutete „Amtsanmaßung“ des Gauleiters, d.h. Bürckel hat sich in die Zuständigkeit der PPK eingemischt , und Kühne teilte ihm mit, er möge dies tunlichst unterlassen. Interessant für uns ist die Dimension der Bücherkonfiskationen. Da heißt es: „… habe ich in Wien mit der Erfassung des im Zuge des Umbruches sichergestellten Schrifttums begonnen. Es handelt sich dabei um mehr als zwei Millionen Bände (…).“ Diese Marke dürfte letztlich überschritten worden sein! Kühne warnt Bürckel: „Bezüglich der Zuständigkeit für die Erfassung dürfte es keinem Zweifel unterliegen, dass das ausschliesslich Angelegenheit der Reichsleitung der NSDAP ist. Damit ist Ihr [gemeint ist die PPK] Zuständigkeitsbereich begründet.“ Überdies sollte die 1934 gegründete Schrifttumsabteilung im Propagandaministerium, die u.v.a. auch die RSK betreute, sich auch nicht in die Zuständigkeit der PPK einmischen! Die Bücherverwertungsstelle in Wien dürfte noch bis Juli 1939 existiert haben. Die PPK mag sich über die Einmischung Bürckels aufgeregt haben, aber eine weitere wichtige Stelle warf auch der PPK „Amtsanmaßung“ vor, wie aus Unterlagen hervorgeht, die bei Seifert nicht zitiert werden. Dies geschah in der Person Alfred Rosenberg, seines Zeichens „Der Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP.“ Rosenberg beschwerte sich gar im Frühjahr 1939 bei Gauleiter Bürckel in Wien. Seine Beschwerde: die PPK habe abmachungsgemäß „in den Gauen überhaupt keine Niederlassungen und auf Beschlagnahme wissenschaftlicher Literatur oder gar ganzer Bibliotheken überhaupt kein Recht.“ Um diesen Abschnitt abzurunden und um zu zeigen, wie heillos zerstritten die einzelnen NS-Ämter waren, möchte ich aus einem Brief an den Stellvertreter des Führers vom Februar 1939 zitieren: „Ich sehe mich gezwungen, Ihnen wiederum eine Unterlage zuzuleiten, wonach die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS.-Schrifttums in unglaublichster Weise über das ihr zustehende Aufgabengebiet hinausgreift und sich Rechte anmasst, die ihr niemals gegeben worden sind.“ Nach Informationen des Gauschrifttumsbeauftragten für Wien würden die PPK in Berlin und Wien „ihr ganzes Augenmerk darauf (anstellen) gegen mich und meine Dienststelle Stellung zu nehmen.“ (ebda.) Die PPK in Wien mögen unverzüglich geschlossen werden.
So erfreulich der Umstand ist, dass Seifert uns über die Bücherverwertungsstelle informiert, so muss doch festgehalten werden, dass es für den Leser vorteilhafter gewesen wäre, wenn der Verf. systematischer vorgegangen wäre und sozusagen in einem Zug alles Wissenswerte über diese neue Institution berichtet hätte, statt sich dazwischen immer wieder mit anderen einschlägigen Themen dieser Zeit zu befassen. So hat der Leser die Aufgabe, aus den vorhandenen Äußerungen die „Geschichte“ für sich zusammenzufassen.
Für seine Darstellung hat Seifert das Archiv des Börsenvereins in Leipzig (Sächsisches Staatsarchiv) ausgewertet, jedoch die Firmenakten österreichischer Unternehmen, die Börsenvereinsmitglieder waren, harren noch einer systematischen Auswertung. Wer Kopien einzelner Firmenakten je bestellt hat, weiß, wie wichtig diese Materialien für eine Firmengeschichte sein können.
Eine Würdigung dieses Kapitels der Arbeit von Seifert darf eines nicht verschweigen, und das ist die Vielzahl von Fehlern, die der Qualität abträglich sind und ein gewisses Misstrauen auch den Angaben gegenüber einflößen, deren Qualität – sind sie nun auch falsch oder ausnahmsweise richtig – vom Leser nicht auf Anhieb eingeschätzt werden kann.
Es sind einfach zu viele Namen falsch geschrieben, als dass man sie selbst bei einer flüchtigen Lektüre übersehen könnte: Karl Mück wird zu Karl Münch, Rudolf Mück zu Rudolf Münch, der Verlag Bernina wird zu „Berninia“, die Zwangsgilde der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhändler wird zum „Zwangskartell“, Friedrich Schreyvogl erscheint als „Schreivogel“, der österreichische Erfolgsschriftsteller der Zwischenkriegszeit Mirko Jelusich ist gerade noch als „Mirka Julisch“ erkennbar. Der Name des in Deutschland sehr bekannten, gebürtigen Wiener Verlegers Jakob Hegner wird mehrmals „Hegener“ geschrieben. Besser ergeht es Ralph Höger („Högner), Engelbert Pernerstorfer („Pernersdorfer“), Walter Wiedling („Weidlind“), Dr. Karl Hans Strobl („Dr. Hans Strobel“), Emrich (= Emmerich) Morawa, Buchhandlung Mejstrik („Majstrik“), Dr. Lothar Kühne („Dr. Kühn“), Dr. Max Präger („Dr. Max Prager“), die Verlagsanstalt Tyrolia („Tyrola“) usw. nicht. Die Behauptung (S. 177), dass österreichische Buchhandelsgrößen wie Dr. Emmerich Morawa, Wilhelm Maudrich oder Karl Berger „alle Gründungsmitglieder in der NSDAP.“ waren, ist nicht nur eine Überbewertung dieser Personen, sie ist falsch. Dass einige von ihnen „illegale Kämpfer“ waren, steht auf einem anderen Blatt. Ebenfalls unrichtig ist die Behauptung, dass die Reichsschrifttumskammer den „Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs“ (S. 167) gründete. Das kann man unmöglich aus den informellen Kontakten zwischen einzelnen Schriftstellern und RSK-Beamten herauslesen. Und last, but not least: die 2bändige Österreichische Verlagsgeschichte (S. 159) erschien 1985, nicht 1988.

(In: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich. 2001-2, S. 22-24.)

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